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KATALOG AUSTRIAconTEMPORARY
ESSL MUSEUM

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AUSTRIAconTEMPORARY

Aus dem Film herausgeklebt
Nach dem Gespräch mit Barbara Vögel treten wir auf die Kirchengasse im 7. Wiener Gemeindebezirk. Wir schauen beide zu Boden, im Stiegenhaus liegen zwei Papierchen, die „gut gefaltet" sind. Fundstücke wie diese zu sammeln, ist ein wesentlicher Teil von Barbara Vögels künstlerischer Arbeit und scheint bei näherem Hinsehen eine Kontinuität zu ihrem früheren Beruf darzustellen. Als Castingdirektorin beim Film, so erzählt Vögel, war ihre Fähigkeit, visuelles Material wie ein Schwamm aufzusaugen, zu archivieren, Zusammenhänge herzustellen - und schließlich den Film mit den passenden Gesichtern zu besetzen -, von großem Vorteil. Doch die Gabe entpuppte sich auch hin und wieder als Bürde, nämlich wenn das Archivieren überhand nahm. Nach acht Jahren bei Film und Werbung wollte Vögel keine fremden Gesichter mehr in ihr geistiges Archiv aufnehmen. 2003 begann sie sich mit Hilfe ihrer Collagen „aus dem Film herauszukleben", wie sie es selbst formuliert. Natürlich geschah dieser Wechsel vom Film zur bildenden Kunst nicht von einem Tag auf den anderen. Vielmehr schob sich langsam eine neue Kulisse in Vogels Leben, um die alte zu verdrängen, Als Barbara Vögel 2004 ihre Arbeit als Casterin aufgab, stand für sie fest, dass es kein Zurück geben würde. Auslöser des beruflichen Wechsels wurde eine Reise nach Grönland, ein Kindheitstraum, wie sie uns anvertraut. Dem Reiseziel Grönland hatte sich die Künstlerin durch Collagen wie „Inuit woman and man on sledge with feather and drum. 14.9.03. Pix!" (2003) bereits lange vor ihrem Aufbruch imaginativ angenähert.

Auf den Straßen Wiens, begleitet von der Sehnsucht nach dem ewigen Eis, sprangen ihr plötzlich unzählige „Eisberge" entgegen: kleine, schmutzig weiße Zacken aus Papier, die unzensiert Eingang in ihre geklebten Bildwelten fanden. Vögel hob sie auf, klebte und träumte von Grönland, bis sie sich im Frühjahr 2004 auf den Weg dorthin machte. Ihre Kunstwerke sind aber nicht nur als visuelle Annäherung an Grönland zu lesen. Vielmehr griffen die kleinen Collagen schon über Jahre hinweg Alltäglichkeiten im Leben der Künstlerin auf und begleiteten als fester Bestandteil ihre persönlichen Aufzeichnungen. Ab 2002/03 lösten sich die Bilder von den Aufzeichnungen und wurden zu einer neuen künstlerischen Praxis erhoben: Mit derselben Passion, mit der sie früher Filmausschnitte ihrer Schauspielerinnen und Schauspieler aufnahm und zu hunderten archivierte, sammelt Vögel seitdem all jene Dinge, die ihr für ihre Collagen wertvoll erscheinen. Sie ist allerdings keine notorische Sammlerin. Sie sagt selbst, dass sie weniger nach dem Material sucht, als dass das Material sie findet. Weniger schicksalhaft ausgedrückt bedeutet das, dass sie zwar genau auf den Boden unter ihren Füßen schaut, aber bereits im Geiste selektiert, was sie gebrauchen könnte und was nicht. Erst dann hebt sie auf, was andere weggeschmissen haben. Nur jene Dinge, die ihr ins Bild passen oder die eine außergewöhnliche Form aufweisen, nimmt sie in ihr Archiv auf. Aus den Augenwinkeln betrachtet muss die Dynamik des Fundstückes stimmen. Oft sind es figurative Papierstückchen, die, vom Zufall kunstvoll zusammengefaltet oder von Autoreifen überrollt, im Verlauf von Tagen und sogar Monaten ihre außergewöhnliche Form angenommen haben. Dieses gefundene Material wird zum Auslöser für eine von Vogels kurzen Geschichten in Bildform, wie zum Beispiel „Chinesischer Händler trifft bei heftigem Sturm in der Präfektur Nagano ein. 7.11.03. Pix!" (2003) oder „Eine Frau in Kabul unterrichtet eine andere Frau. 18.11.03. Pix!" (2003).

Vögel generiert ihr Material durch Zufall und Selektion, nicht durch Bastelei oder Adaption. Die kleinen Objekte und Papiere (ihre Collagen erscheinen meist im A4- oder A3-Format) werden unverändert in ihre Geschichten eingearbeitet, genau so, wie Vögel sie aufgefunden hat. Alle Papierstücke, Plastik-, Metall- oder Holzteile bleiben im Originalzustand, nichts wird zerschnitten, verbogen, manipuliert. Vögel bezeichnet sich selbst als jemanden, der gerne betrachtet, aber nicht im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Konsequenterweise gab sie daher 1980 ihr Schauspielstudium nach kurzem wieder auf, um für einige Zeit das Büffet der Schule zu übernehmen und dort tagtäglich in die Rolle der Beobachterin zu schlüpfen. Als sie im Herbst 1978 nach Wien kam, verbrachte Vögel jede freie Minute im Filmmuseum. Ihre Begeisterung für das Narrative sieht man ihren Arbeiten an. Die Geschichten, die sie zu den Collagen -übrigens als Rechtshänderin mit der linken Hand - aufs Papier krakelt, ergänzen die Bilder wie kurze Szenenabrisse.

Während Vogels Collagen auf jugendfreie, poetische Art ihren Blick auf die Welt wiedergeben, von fremden Orten wie Japan, Vietnam oder Grönland erzählen und sich dabei vor allem auf das Zusammenspiel der einzelnen Elemente konzentrieren, folgt ihre Serie „Short Pornos" (2003-08) einem anderen Konzept. Die „Short Pornos" unterliegen einem bestimmten Aufbau, der sich von Bild zu Bild wiederholt: Ein gefundenes Papierstück mit Aufdruck oder Handschrift (wie eine handgeschriebene Einkaufsliste oder ein Bahnticket) wird stets mit einem Bild von einem weiblichen oder männlichen Pornostar - mit Vorliebe von Rocco Siffredi, Vogels Lieblingspornodarsteller - und einem handgeschriebenen Text kombiniert. Der Text stammt von Barbara Vögel selbst und schiebt sich oft über das gesamte A4-Format. Dabei entspinnt sich eine Art Dialog zwischen ihr und Rocco. Die Darstellerinnen, die häufig gemeinsam mit Rocco Siffredis erigiertem Penis ins Bild gerückt werden, sind nicht ausschließlich Pornostars. In den Augen von Barbara Vögel sind es selbstbewusste, lustvolle und leidenschaftliche Frauen, die „sich, ohne zu zögern, nehmen, was sie brauchen, und ganz dringend brauchen, was sie sich lustvoll nehmen". Vögel geht es dabei um die weibliche Lust am Sex und die Möglichkeit, ihr Verlangen gewitzt und mit Selbsterkenntnis zum Thema ihrer künstlerischen Arbeiten zu machen. Das Schreiben wie auch ihre geklebten Kunstwerke, zwei wesentliche Merkmale ihrer Arbeit, manifestieren sich immer aufs Neue. Welche weiteren Geschichten dabei herauskommen, weiß die Künstlerin oft selber nicht. Es hängt davon ab, was sie finden wird.

Karin Altmann, Künstlerin und Autorin, arbeitet seit 1999 als Kunstvermittlerin im Essl Museum. Derzeit ist sie außerdem Lehrbeauftragte an der Universität für Angewandte Kunst Wien, wo sie ihre Dissertation über „Textilkunst in Bhutan" verfasst.
Veronika Hauer ist Künstlerin und Autorin. Sie lebt derzeit in London, wo sie ein MA Studium am Goldsmiths College absolviert. Veronika Hauer ist Mitherausgeberin der Onlinezeitschrift „NOWISWERE".

Pasted out from film
After the conversation with Barbara Vögel we are heading out on to Kirchengasse in Vienna's 7th district. We are both looking down at the ground, seeing two iittle papers iying in the stairwell, both "well folded". Collecting finds such as these is an essential part of Barbara Vögel's artistic work and on closer inspection seems to be a link to her for-mer profession. As a film casting director, Vögel tells us, her ability to absorb visual material iike a sponge, to archive it and create connections -and finally cast the right faces for film parts - was of great advantage. But sometimes the gift turned out to be a burden, whenever the archiving got out of hand. After eight years in the film and advertising industry, Vögel no longer wanted to admit the faces of others into her mental archives. In 2003, she started to use collages to get "pasted out of film", as she herself puts it. Of course, this changeover from film to the visua! arts did not happen over-night. It was more Iike a new context that would slowly enter into Vögel's life, crowding out the previous one. In 2004, when Barbara Vögel abandoned her Job in casting, she was certain that there would be no going back to it. The trigger for her Professional move was a trip to Greenland, a childhood dream, as she told us. Long before she departed for Greenland, the ar-tist had approached her destination in her imagi-nation through collages such as „Inuit woman and man on sledge with feather and drum. 14.9.03. Pix!" (2003).

In the streets of Vienna, accompanied by a longing for the icy shores, she suddenly encountered countless "icebergs": small, dirty jagged white pieces of paper that she entered into her pasted pictorial world uncensored. Vögel picked them aup, pasted them and dreamt of Greenland, until she actually went there in the spring of 2004. Her artwork is not only a Visual exploration of Greenland. Over several years, the small collages continued to pick up tiny everyday details from the artist's life and were an inherent part of her personal records. As of 2002/3, the pictures got divorced from the records and were raised to the level of a new creative practice: the same passion she once invested in archiving hundreds of film cuts with her actors and ac-tresses, Vögel now accords to all the things she considers valuable for her collages. She is not a notorious collector, though. As she puts it, it is less her looking for the material than the materi-al finding its way to her. In less fateful phrasing this means that aithough she does scrutinise the fioor under her feet, she mentally selects what she might need or not. Only then will she pick up what others have discarded. Only the things that fit into her picture or are striking in shape will be entered into her archives, The find must possess a certain dynamism when Coming within her peripheral sight. Often, they will be figurative scraps of paper; artfully folded by coincidence or rolled over by car tires, they may have taken days or even months to reach their extraordinary shape. This found material is the source of Inspiration for one of Vögel's short stories in pictures, such as "Chinesischer Händler trifft bei heftigem Sturm in der Präfektur Nagano ein. 7.11.03. Pix!" (Chinese marketer arrives at the prefecture Nagano during a heavy storm. 7.11.03. Pix!) (2003) or "Eine Frau in Kabul unterrichtet eine andere Frau. 18.11,03. Pix!" (A woman in Cabul teaches another woman. 18.11.03. Pix!) (2003).

Vögel generates her material through coincidence and selection, not tinkering or adaptation. The small objects and paper scraps (her collages usually are in A4 or A3 format) are worked into the story exactly the way Vögel found them. All the paper scraps, plastic, metal or wooden pieces ätay in their original State, nothing is cut apart, bent or manipulated. Vögel calls herself someone who likes to obseve but is not at the centre of observation. It was therefor consistnet that in 1980 she abandoned her actor's training after a short while and ran the school's canteen for a while, where she took on the role of observer day by day. When she came to Vienna in the autumn of 1978, Vögel spent every free minute at the Filmmuseum. Her enthusiasm for narratives is clearly expressed in her work. The little stories she scrawls on the collages - written with the left hand aithough she is right-handed, by the way-comple-ment the pictures like short plot synopses.

While Vögel's collages reflect her view of the world in a Grated, poetic manner, telling of foreign places such as Japan, Vietnam or Greenland and mostly concentrate on the interaction between the individual elements, her series "Short Pornos" (2003-08) is dominated by a different concept. The "Short Pornos" are subject to a certain structure that is repeated in every picture: a paper scrap with printed or handwritten text (such as a handwritten Shopping list or a railway ticket) found at random is always combined with the picture of a female or male porn star - preferably Rocco Siffredi, Vögel's favourite porn actor - and a handwritten text. The text is by Barbara Vögel herself and often goes across the entire A4 format. In the process, a kind of dialogue develops between her and Rocco. The female actors, frequently presented together with Rocco Siffredi's erect penis, are not exclusively porn stars. In Barbara Vögel's eyes they are self-confident, pleasure-loving and passionate women who "do not hesitate to take what they need and who very urgently need what they so much enjoy taking". Vögel is concerned with women's enjoyment of sex and the opportunity to make her desire the topic of her work as an artist in a smart and self-aware manner. The writing and her pasted artwork, two essential elements of her work keep manifesting themselves. What the stories will be the artist often does not know herseif. It will depend on what she finds.

Karin Altmann, artist and writer; member of the Essl Museum art education team since 1999. Currently also holds ateaching post at the vienna University of Applied Arts where she is writing her thesis about "Textile art of Bhutan".
Veronia Hauer is an artist and writer. She currently lives in London, where she is attending an MA course at Glodsmiths College. She is a co-editor of the online magazine NOWISWERE.